
"Wie kannst du das nur tun? Es ist doch deine Familie!“
Das oder eine ähnliche Entgegnung erwartest du meistens, wenn du deine Freunde über die 'Trennung' informierst. Ob diese Antwort naiv ist, sei mal dahingestellt.
Es wäre doch besser zu fragen: „Was bewegt ein Kind dazu, sich von seiner Familie abzuwenden?“
Und genau diese Frage möchte ich dir in den nächsten Zeilen beantworten.
Für mich begann alles damit, dass ich meiner Psychologin erzählte, wie sehr ich meine Mutter hasste. Nur wenige Leute wussten bisher davon und sie reagierten meistens entsetzt, wenn ich von meinem Hass erzählte. Die Psychologin blieb zu meiner Überraschung aber ganz ruhig und gab mir zu verstehen, dass ich gerade nichts Schlimmes geäussert hatte. Ihre Antwort darauf war: „Die Wahrnehmung des Familienkonzepts hat sich in den letzten Jahren erheblich verändert“. Ihre Reaktion und die Antwort auf meine Aussage haben mich verwundert. So etwas hatte ich nicht erwartet.
Bedeutete das etwa, dass ich meine Familie nicht bedingungslos lieben musste? Durfte ich tatsächlich entscheiden, ob und wie ich Kontakt haben will? Bis zu diesem Punkt schien mir die Vorstellung, den Kontakt abzubrechen, undenkbar. Ich war noch im Muster "Wie kannst du das tun?" Es ist doch deine Familie" gefangen.
Ich schob den Gedanken daher beiseite. Er war ein fremder Gast in meinem Kopf und ich wollte ihn nicht mehr bei mir haben. Viel zu radikal. Denn im Grunde genommen war meine Familie doch nicht so schlecht? Oder doch? Nein! Andere Kinder hatten eine viel schlimmere Kindheit als ich. Ich übertreibe.
Es vergingen einige Monate, bis die Gedanken erneut in meinem Kopf auftauchten. Der Prozess bis zum 'Tag der Entscheidung' war schleichend. Er kündigte sich langsam an, mit immer häufiger auftretenden Anzeichen - Panikattacken, als Beispiel.
In vielen Gelegenheiten hatte ich diese Anzeichen wie so oft heldenhaft ignoriert. Vielleicht hatte ich nicht genug geschlafen oder gegessen, oder ich war gestresst - die üblichen Verdächtigen halt. Schließlich fühlte ich mich dermaßen schrecklich, dass ich es nicht länger aushielt und meinen inneren Detektiv einschalten musste.
Es folgte eine Phase der Isolation, in der ich intensiv nachdachte und schließlich eines Morgens unerwartet die Erkenntnis hatte, dass ich keinen Kontakt mehr zu meiner Familie haben wollte.
An jenem Morgen war ich unterwegs, als ich spürte, wie mein Handy in meiner Tasche vibrierte. Ich nahm es hervor und blickte auf eine Nachricht von meinem Vater. Ich verspürte sofort ein abneigendes Gefühl. Ich wollte nichts von ihm wissen und einfach in Ruhe gelassen werden. Es interessierte mich gar nicht, was in der Nachricht stand.
Und dann passierte es - das war der entscheidende Moment! Das Gefühl der Abneigung und des Widerwillens, das ich jahrelang gegenüber meiner Familie empfunden und ignoriert hatte, bekam seinen Platz. Jetzt war ich wütend, weil ich wusste, dass ich keinen weiteren Kontakt mit ihm oder dem Rest der Familie haben und in Ruhe gelassen werden wollte.
Ich ging nach hause, setzte mich hin und öffnete meinen Laptop. Google sollte mir erklären, wie ich am besten mit meiner Familie Schluss machen konnte. Also setzten wir eine Nachricht auf, in der ich ihm erklärte, dass ich keine Kontakt mehr will. Sie war respektvoll und anständig, aber sehr klar formuliert. Schließlich wollte ich meinen Vater nicht verletzten, sondern einfach keinen Kontakt mehr.
Nachdem ich die Nachricht abgeschickt hatte, mischte sich eine Traurigkeit zur Wut.
Tief im Inneren wusste ich, dass mein Vater sich um mich sorgte. Der Verlust seiner Tochter musste für ihn ein schwerer Schlag sein. Aber es war an der Zeit, meine Gefühle ernst zu nehmen und mich selbst zur Priorität zu machen. Den Rest des Tages verbrachte ich weinend in meinem Bett. Es war zwar eine befreiende Entscheidung für mich, aber es war dennoch vergleichbar mit dem Ende einer langjährigen Beziehung. Es braucht Zeit und es schmerzt. Doch auf lange Sicht ist ein Ende mit Schrecken besser, als gar kein Ende.
Seitdem sind einige Monate vergangen und ich bin nach wie vor überzeugt, dass es die beste Entscheidung meines Lebens war. Ich bereue nur, dass ich nicht schon früher auf meine Gefühle gehört und diesen Schritt eher gewagt habe. Es hätte mir so einiges erspart.
Du fragst dich vielleicht, ob ich meine Familie vermisse. Die Wahrheit ist, dass ich die idealisierte Vorstellung meiner Familienmitglieder vermisse, die jedoch nie wirklich existierten. Da ich mir dieser Tatsache nun bewusst bin, vermisse ich sie nicht.
Comments